Nach und nach leerten sich die Verstecke. In der Nacht zum 7. August brach wie eine der Kriegsfurien Winterkälte in das Land ein. Reif überzog die Erde und überraschte am bittersten die in dünnen Stofffetzen herumziehenden Bettler. Starr blieben einige der entkräfteten Körper auf den Wegen zwischen den Dörfern liegen, die heftig darum stritten, wer für die Beisetzung aufzukommen habe. In den Fluchtburgen suchten die Menschen in ihren Erdlöchern Schutz und begannen mit dem Heizen. Zwar hielt der Frosteinbruch nur ein paar Tage an, doch waren vor allem die Älteren entsetzt, dass zu allen erfahrenen Schrecken der vergangenen Jahre jetzt auch noch die Jahreszeiten aus den Fugen gerieten.
Das Dorf vibrierte aber auch noch wegen einer anderen Sache. Unbotmäßige Neugierde erfasste nahezu alle und führte sie weit früher als bislang beabsichtigt in ihre verlassenen Häuser zurück. Von Fenster zu Fenster, von Klinke zu Klinke hüpfte ein Wispern und Raunen, das sich alsbald aufplusterte zu allerlei Mutmaßungen über die Neue vom Schmied.
Schon trieb ein Gerücht das andere vor sich her durch die Gassen. Sie sei eine Hure aus einem Feldlager der Schwedischen, wollten welche wissen. Andere erzählten, sie hätte eine ganze Wagenladung silberner Kerzenleuchter, goldener Ringe, Rubine und Goldmünzen mitgebracht, die sie auf den Raubzügen der Landsknechte zusammengerafft habe. Der Wagen stünde unmittelbar neben der Schmiede und werde von einem Raben bewacht, der jedem Neugierigen die Augen aushacke. Jemand behauptete, sie sei in Wirklichkeit eine Zigeunerin, die den Tönges mit Hexenkräften fesselt und seine Kinder verkaufen will. Stein und Bein wurde gleichzeitig geschworen, dass eine rothaarige Riesin das Kommando in der Schmiede übernommen habe. Die Leute platzten fast vor Erwartung, dieses Weib endlich mit eigenen Augen zu sehen.
Selbst die Pfarrei wurde von der Aufregung erfasst. „Ist dieser Tönges von allen guten Geistern verlassen, uns eine Tatersche unterschieben zu wollen?“, schalt der Pfarrer.
„Johannes, dir will er sie nicht unterschieben und auch keinem anderen im Dorf“, hielt ihm seine Frau Anna entgegen. Die Männer in der Runde lachten schallend. „Wir können die Unzucht nicht zulassen, dass eine Hure hier einzieht“, überschrie einer der angesehenen Ackermänner das Gelächter, das daraufhin sofort verstummte.
„Ach“, widersprach ihm Anna. „Du Tugendhafter wagst es, von Unzucht zu sprechen. Das ganze Dorf redet über dich und tröstet deine Frau, so wie du es da draußen im Waldversteck getrieben hast. Gibt es noch eine Magd, der du nicht nachstellst? Was sitzen hier eigentlich für Esel zusammen? Euer Geflenne war nicht mehr auszuhalten wegen des Mangels an Zugtieren bei der Feldarbeit. Nun bringt diese Frau sogar ein Pferd mit, und ihr begrüßt sie nicht freundlich, sondern schaut lamentierend dem Gaul ins Maul und bemäkelt die Herkunft.“
„Sie spioniert hier doch nur“, setzte trotzig der Bauersmann nach.
„Natürlich, sie wird wissen wollen, wo dein irdener Nachttopf steht und all deine anderen Reichtümer, du Depp“, ließ sich die Pfarrersfrau nicht unterkriegen. „Habt ihr vergessen, dass alle, die in Buchholz dabei waren, einhellig berichteten, dass sie unseren Schmied in Schutz nahm, bevor ihn und womöglich unser ganzes Dorf die Rache für den Tod der Kroaten traf? Damit entschied sie sich für uns, und als eine der Unsrigen sollten wir sie jetzt auch aufnehmen!“
„Darüber müssen wir mit Tönges ohnehin nochmal ein klares Wörtchen reden, dass er uns mit seinem unüberlegten Eingreifen in Gefahr gebracht hat, noch dazu wegen einer Buchholzer Göre, die ohnehin schon halb tot war“, ließ der Bauer nicht locker.
„Buchholzer Göre“, schnappte Jost, der Nachbar von Tönges, nach Luft. „Du hast nicht die geringste Vorstellung davon, wie das ist, eine Tochter zu verlieren. Du hast nie eine behütet und dich auf jeden neuen Tag gefreut mit so einem Mädel, das wie ein Lichtstrahl durch das Haus springt und allein mit seinem Gesang die trüben Gedanken verscheucht. Und dann kommen solche Bestien, die in einem Moment blinder Geilheit alles auslöschen.“
Er jedenfalls habe sich geschämt, tatenlos dem Tod der Gertrud zugesehen zu haben aus Furcht um sein eigenes Leben. „Was unterscheidet uns denn noch von Tieren, wenn wir nicht mal mehr wagen, unsere Kinder zu verteidigen? Jedes Spatzenpaar tut das, wenn eine Katze an ihr Nest kommt. Todesmutig stürzt es sich auf die Angreiferin. Ich jedenfalls habe mich befreit gefühlt, als Tönges die Mörder richtete.“
„Zu richten kommt allein Gott zu“, warf Johannes ein.
„Aber er kann es nur einmal“, stöhnte seine Frau. „Was macht es dann noch für einen Unterschied, ob einer zuvor fünfmal oder zwanzigmal mordete. Diese zwei erschlagenen Furien hätten garantiert noch viel Unheil über andere gebracht, weil sie schon aus Gewohnheit Jungfern schänden und Mütter töten. Und wenn wir schon mal bei Gott sind“, fuhr sie fort. „Sticht es euch nicht ins Auge, dass er weder den Furchtsamen, noch den Zeternden beisteht, sondern allein den Mutigen und Entschlossenen. Tönges hat gehandelt. Wurde er dafür bestraft? Keineswegs. Gott gab ihm sogar eine neue starke Frau an seine Seite.“
„Stimmt“, pflichtete ihr Jost bei. „Auch David, der damals vor Buchholz nach Waffen schrie und den Angriff auf den Nachtrab des durchziehenden Regiments führte, wurde mit Erfolg belohnt. Zwei Pferde brachte uns das ein, die wir dringend brauchen.“
„Da fällt mir ein“, bemerkt Caspar Zimmermann, der Dorfschulze, „dass wir uns endlich einig werden sollten, das erbeutete Geld zum Kauf von Saatgetreide einzusetzen. Was aber den Schmied angeht, so kann er nicht unehelich mit dem Weibsstück unter einem Dach hausen. Wir müssten ihn sonst mit dem Beil verheiraten.“
„Willst du es auf dich nehmen, die Mutter seiner Kinder für tot zu erklären?“, hielt ihm Jost entgegen. „Unsere Dörfer hat der Krieg fast ausgekehrt, viele sind nahezu menschenleer, nur ganz wenige Familien blieben oft übrig. Anna hat völlig recht, wir sollten uns über jede Hand freuen, die uns stärkt und auf den Feldern hilft. Ob sie gehurt hat, muss sie allein mit Tönges ausmachen. Auf jeden Fall ist sie aber eine Marketenderin, denen viele Künste nachgesagt werden. Sie haben gute Verbindungen zu Handelshäusern und wissen oft weit mehr über die Heilung von Kranken oder Verletzten als die Feldschere und Ärzte. Auch auf Geburten verstehen sie sich zumeist.“
„Vor allem das Abtreiben“, mischte sich ein giftiger Zwischenruf ein, der aber sofort sein Fett wegbekam: „Da pass mal auf deine rollige Älteste auf, dass du nicht der Erste bist, der sich nachts heimlich zu der Neuen schleicht, ob sie dir die Schande vom Hals halten kann.“ Womit das Gelächter von neuem einsetzte.
Doch der Ausgelachte schlug zurück: „Wisst ihr, dass sie einen Raben bei sich hat und mit ihm spricht? Welche normale Frau tut so was?“
„Deine zum Beispiel“, fuhr Anna sofort dazwischen, bevor sich das Gespräch im Hexenunwesen verfangen konnte. „Hast du ihr nie zugehört, wenn sie die Hühner füttert? Jedem hat sie einen Namen gegeben und verteilt Lob und Tadel fürs Eierlegen. Siehst du daran etwas Schlimmes? Hühner konnte die Neue, die übrigens Frowe heißt und eine böhmische Protestantin ist, bei sich wohl kaum halten. Die Kerle hätten das Federvieh sofort geschlachtet. Also hat sie einen Raben. Was soll’s?“
Als die Männer wieder auseinandergingen, war letztlich nichts entschieden. Anna seufzte. „Wie wirst du reagieren, wenn Tönges sie nun in die Kirche mitbringt und vorne in der zweiten Reihe neben sich setzen lässt?“, fragte sie ihren Mann.
Der winkte ab. „Man wird sich wie gewöhnlich die Mäuler zerfetzen. Wenn die Frowe keinen Anlass gibt für weiteres Gerede, legt sich das bald. Das hängt davon ab, ob sich die Marketenderin nicht zu schade ist für die schwere Feldarbeit. Wenn sie nur zu Hause hockt und sich putzt, bleibt sie für immer ein Fremdkörper. Vor allem muss sie schleunigst unter die Haube, was jedoch praktisch gar nicht geht. Da sehe ich noch einiges auf mich zukommen.“
*
Vor der Tür der Dorfpfarre stand sich der Sägemüller noch immer die Beine in den Bauch. Alle anderen hatten sich schon verabschiedet. Er tat dabei so, als hätte er ein Bewerbchen, zum Pfarrer zurückzukehren. Der aber lief bereits zur Kirche hinüber, begleitet vom Geläut der Glocke, die umgehend Waldmann herbeirief, all sein Leid zu klagen. Dem Hund musste das Läuten weit mehr als jedem anderen seiner Artgenossen im Dorf Höllenschmerzen in den Ohren bereiten. Er heulte zum Herzerweichen, und jeder Schlag des Klöppels steigerte sein Klagelied.
Am liebsten hätte sich Franz die Ohren verstopft vor dem ständigen Auf- und Abschwellen des bronzenen und tierischen Lautgemischs. Dennoch war er der leidenden Kreatur dankbar, denn er musste sich nicht mehr so krampfhaft verstellen, um äußerlich sehr gelangweilt wirkend den Blick immer mal wieder hinüber zu der von hier gut einsehbaren, höher gelegenen Schmiede schweifen zu lassen. Waldmann erlaubte es ihm, sich ungeniert gänzlich dem Beobachtungsobjekt zuzuwenden. So gern er die Neue auch sehen wollte, brachte er dennoch die Traute nicht auf, einfach hinzugehen und guten Tag zu wünschen.
David hatte sie ihm ja schon beschrieben als baumstark aber trotzdem sehr weiblich und schön. Ihr Händedruck sei zupackend wie der eines Mannes, wobei sie sanftmütig unter langen Wimpern hervor lächle. Tolle Mischung, dachte sich Franz, und es kribbelte in ihm. Aber wie bei einem Konfirmanden verknoteten sich die Arme mal vor dem Bauch und dann hinter dem Rücken, ferngelenkt, als gehörten sie einem Fremden. Noch weniger als mit ihnen kam er mit den Worten klar, die er versuchte, sich zurechtzulegen für einen Anstandsbesuch. Sie ist ja sowas wie ein Kaufmann, druckste er herum, nicht wissend, ob da schon ein Diener angebracht war, oder ob das dann doch des Guten zu viel wäre.
Endlich flog die Tür der Schmiede auf, aber es war Lene, die etwas in Eimern herausschleppte. Na klar, sprach er zu sich selbst, da kehrt ein neuer Besen im Haus. Dürfte sich wohl genug Kehricht angesammelt haben, seit seine Margot verschleppt worden ist.
Erleichtert atmete er auf, nun einen Grund gefunden zu haben, warum es ganz gewiss unpässlich wäre, seine Aufwartung zu machen. „Wird sich schon mal ergeben, den Satansbraten mit eigenen Augen abzutasten“, pfiff er durch die Zähne und trollte sich.
Auf dem Heimweg wärmte ihm die Sonne den Rücken. Die Behaglichkeit drang aber nicht bis zu ihm vor. Auf ihm lastete ein Rucksack schwerer Sorgen. Schwarz vor Augen war ihm geworden, als der Schulze soeben in der Pfarrei vorgerechnet hatte, was er noch zahlen solle für Grundsteuer, Teichgeld, Erbzins und weiß der Teufel alles. Schleunigst solle er sieben Gulden und sechs Kreuzer auftreiben, sonst würden die Büttel des Grafen ihm mit Gewalt beikommen.
Dabei ist es doch aber gerade der Graf, der ihm Geld für gelieferte Balken und Bretter schuldet, kochte es in Franz. Demütig sah er sich bereits wieder fast auf Knien zu den Kämmerern in Stolberg kriechen, um das ihm zustehende Geld zu erbetteln, während sie die Dinge im Wissen um ihre Allmacht einfach verdrehen und ihm umgekehrt eiskalt lächelnd mit Pfändung drohen.
Was soll er denn tun? Sicherlich könnte er versuchen, noch viele Ausstände einzutreiben. Einige waren Jahre alt, so dass er sogar auf Zinsen bestehen könnte. Doch wusste er selbst ganz genau, dass dort kein Heller zu holen ist. Die Petersdorfer hat er darum schon abgewiesen, als sie nach Bauholz fragten, weil sie in ihrer zerstörten Kirche zumindest einen provisorischen Gebetsraum einrichten wollen. Wie soll er aber über die Runden kommen, wenn er lohnende Aufträge gar nicht erst annehmen kann in der Gewissheit, bei der Bezahlung bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag vertröstet zu werden?
Oftmals wurde ihm schon angeboten, die Rechnung bei ihm abarbeiten zu wollen. Er konnte nur böse auflachen bei der Vorstellung, mit kostenloser Hilfe noch mehr unbezahlbares Holz zu vertreiben.
Freilich, die Nordhäuser würden es ihm sofort mit Handkuss abnehmen und bei Lieferung auch silberne Gulden in die Hand drücken. Aber er kann ja die Balken nicht auf der Schulter hinschleppen. Und selbst, wenn ihm der Herr Pferde senden wollte, käme er mit ihnen nicht an, ohne unterwegs an das Räubergesindel alles zu verlieren, womöglich sogar das Leben. Franz sah kein Entkommen aus diesem Teufelskreis. Für das vergebene Recht, die Mühle zu betreiben, bestand der Graf auf dem Anteil am Gewinn. Nur enthielt dieser Vertrag keine Klausel über Notzeiten, in denen es nichts zu gewinnen gab.
Niedergeschlagen kam Franz zu Hause an. Das Mühlrad stand still. Gelangweilt saßen seine Söhne auf dem Hof. Er wollte sie anfahren und hochscheuchen und dabei seine Wut rauslassen. Als sie zu ihm herübersahen, winkte er jedoch nur ab und setzte sich auf die Bank am Stamm der alten Linde vor dem Haus. Der Baum mochte an die zweihundert Jahre alt sein und kannte sämtliche Geschlechter, die zuvor seine Mühle bewohnten. Wie oft schon hatte er den Kopf an der Rinde gerieben, als könnte sie seine Sorgen aufsaugen.
Hatten denn die vor ihm ein leichteres Leben? Die Krone aus Lindenblättern hatte sie immer beschirmt. Verhungern musste niemand. Die Mühle ernährte sie. Im Schutz dieses Baumes fühlte sich Franz am wohlsten. Aus dem Geäst wisperten ihm die Stimmen zu vom Vater, der Mutter und auch den Großeltern. Halte durch, mahnten sie, wir haben die Last ebenso getragen, nun ist es an dir und dann an deinem Ältesten.
Immer häufiger jedoch, wenn er nach oben schaute, tief in das Astwerk, das von Tausenden durchsichtigen Flügelschlägen summte, dann sah er dort Füße über sich baumeln.
Seine Füße.
Den Gedanken, sein Leben in diese Linde zu hängen, es ihr zu übergeben, vermochte er kaum noch abzuschütteln. Unerträglich war alles geworden. Wie lange schon versuchte er, mit jedem neuen Jahr Hoffnung zu schöpfen, dass der Jammer dieser endlosen Kriegswirren einmal ein Ende haben muss. Doch mit jedem Jahr wuchsen der Bestie neue Köpfe, die alles verschlangen, was auf der Erde wuchs, und mit ihrem Feueratem verbrannten, was mit letzter Kraft nochmals aufgebaut wurde.
Herrschte anfangs Entsetzen über die Sünde der Selbstmorde, zählte sie inzwischen schon gar keiner mehr. Sicherlich käme er sogar in geweihte Erde. Was macht es schon, vergraben zu werden auf dem längst verfallenen Vockenröder Kirchhof und nicht dem im Dorf. Friedhof ist Friedhof, dachte er sich. Ob die Mauer noch drum rum steht oder nicht.
Franz nahm in Gedanken seinen Ältesten Maß. Wäre er stark genug, die Familie durchzubringen? Zumindest müsste er ihn noch verheiraten. Ein tiefer Seufzer entlud sich seiner Brust. Nein, noch würde er nicht aufgeben. Aber vorsorgen für den Fall der Fälle, das wollte er schon.
David wusste nur zum Teil, wie schlimm es wirklich um die Mühle stand, und dass die gerade vom Schulzen vorgerechnete Schuld nur einen Bruchteil dessen darstellte, was sich über die Jahre angehäuft hatte. Mochte der Graf auch einsichtig genug sein, gegenwärtig nicht einzufordern, was einfach nicht da war. Seine Schreiber addierten säuberlich sämtliche Ausstände. Jederzeit könnten sie den Müller vor die Tür setzen, der zeitlebens die Forderungen der gräflichen Schatulle kaum noch zu erfüllen vermag. Sobald jemand ein Auge auf die Sägemühle wirft und das Versprechen leistet, künftig seinen Obolus zu leisten, würde aus der Familie Franz Lahrmann endgültig die Familie Franz Bettelmann.
„Was habt ihr besprochen in der Pfarrei?“, gesellte sich David zu ihm. „Sicherlich ging es doch um die Neue vom Schmied. Nehmt ihr sie auf?“
Es dauerte, bis sich der Vater zurückfand aus dem Wust seiner trüben Gedanken. „Was kümmert dich das?“, knurrte er und besann sich, dass sein Ältester auffällig oft über die Schmiede sprach und da bereits ein- und auszugehen schien. Mit einem Schlag überkam ihn ein Verdacht. „Läufst du etwa der kleinen Lene hinterher?“, belauerte er seinen Sohn und war nun hellwach, da jener, statt wie erwartet, laut aufzulachen, betroffen schwieg.
„Das schlag dir sofort aus dem Kopf“, wetterte er los. „Die ist nichts für uns. Die kann höchstens Borke tragen aber kein Holz. Das Mieserippchen wäre schon allein mit dem Haushalt völlig überfordert. Wenn du die mit zwei Wassereimern die Bodenstiege hochschickst, musst du unten stehen bleiben, um sie wieder aufzufangen. Junge, wo hast du denn deinen Verstand?“
David war aufgewühlt. Diese Auseinandersetzung traf ihn völlig unvorbereitet. Mit keiner Faser hatte er bislang bedacht, sich wegen seiner Liebsten rechtfertigen zu müssen. Darum wollte er das Ganze erst mal bagatellisieren. Doch Jacob, sein jüngerer Bruder, war schneller. „Hat denn im Waldversteck niemand bemerkt, dass David plötzlich das Wasserholen übernahm?“, sprudelte es aus ihm heraus. „Sonst war das immer unter der Würde des Mühlenerben und ich musste es machen“, stichelte er weiter. „Aber sobald ein Eimer mit langen, gelben Zöpfen loszog, war er schon auf und davon.“
Franz schnappte nach Luft. Alle wussten also bereits von den Abwegen seines Ältesten, nur er nicht. Schon wollte er seine Vorwürfe knüppeldick niederprasseln lassen. Im letzten Moment besann er sich an einen vor fast zwanzig Jahren geleisteten Schwur. Damals hatte ihn der Vater halb totgeschlagen, als er sich dessen Auswahl der Schwiegertochter widersetzte. Niemals, so nahm er sich fest vor, wollte er so etwas seinen Kindern antun.
Fast sanft setzte Franz also an, David ins Gewissen zu reden. „Du kannst mir nicht vorwerfen, dich bislang zu irgendetwas gezwungen zu haben“, holte er aus. „Auch nicht zu einer Frau. Aber du weißt, wie hart das Leben hier draußen im Wald ist, und dass du allein die schwere Arbeit nicht schaffst. Deine Brüder werden bald fortziehen, so wie meine das auch gemacht haben. So viel die Mühle auch rackert, kann sie nur eine Familie recht und schlecht ernähren. Mehr nicht. Ich habe dir ja erzählt, dass ich seit Jahren die Steuern nicht mehr zu zahlen vermag und die Pfändung droht. Sobald Jacob und Peter heiraten wollen, müssen sie gehen. Dann liegt alles auf den Schultern von dir und deiner Frau. Denn ich und Mutter werden schwächer.“
David zuckte zusammen. Die Mutter. Unwillkürlich sah er seine Helena an ihrer Stelle. In gebückter Haltung kroch sie wie eine alte Frau. Ihre 39 Jahre trug sie bereits doppelt auf dem Rücken. Die schmerzenden Bandscheiben verfolgten sie bei jedem Schritt. Nachts im Bett fand sie keinen Schlaf, wälzte sich stöhnend von einer Seite zur anderen. Dennoch blieb der Vater gnadenlos, so sehr sie auch ächzte, wenn die Baumstämme aufgelegt werden mussten in die Gattersäge oder die Balken zu stapeln waren bis über Kopfhöhe.
Sobald sie aufschrie vor Schmerzen, fuhr er sie an. „Du Nichtsnutz“, stieß dann sein Vorwurf wie ein Habicht auf sie herab und bohrte sich in ihre Seele, die in der Lieblosigkeit ihrer Ehe ebenso verkrüppelte wie ihre Wirbelsäule. Brach sie zusammen unter der Last, traf sie obendrein der Fußtritt ihres Mannes, der sie zur Seite schleuderte in die Haufen von Sägemehl und Borke. Einmal war David so weit, die Hand gegen seinen Vater zu erheben, weil er es nicht mehr ertrug, den Qualen der Mutter zuzusehen. Doch er rannte weg und verkroch sich schluchzend hinter einem Stapel Bretter.
Soweit kannte er das Familienoberhaupt, dass er die Folgen seines Aufbegehrens abschätzen konnte. Er würde aus dem Haus gejagt. Gnadenlos. Die Mutter wäre dagegen machtlos, die Brüder hätten den Mund gehalten. Oft genug spürte David den Vorwurf in ihren Stimmen, wenn sie sich über die Zukunft unterhielten, warum gerade ihm das Glück des Erben zuteil wurde, während sie später einmal davonziehen mussten, um sich als Knechte zu verdingen oder bestenfalls als Gesellen in einer anderen Mühle. Einen Wechsel in dieser Rangfolge hätten wohl weder Jacob noch Peter ausgeschlagen.
In Fetzen trieb nun die Seifenblase davon, schillernd in ihren schönen Farben. In ihr hatten Helena und David bislang Platz gefunden. Trotz aller Härte ließ das Leben in der Fluchtburg des Waldes Raum für Romantik und Fantasien. Darin musste David seine Helena nicht aus der Schmiede reißen, wo nun mal keine Frau am Amboss zu stehen pflegt, und sie in die Plackerei der Schneidemühle umpflanzen. Erinnerte er sich jetzt zurück an seine Träumereien, dann sah er den Schein des Schmiedefeuers und nicht die Holzmehl verspritzenden Sägen.
Franz überhörte das Bersten der Scheinwelt seines Ältesten. Er deutete dessen Schweigen als Trotz. Also setzte er nochmal an: „David, mit der Wahl für eine Frau entscheidest du auch über den Fortbestand unserer Mühle. Dein jetziges Liebesleid ist nur ein quersitzender Pups verglichen mit dem Hunger, der sich in die Därme frisst, wenn ihr die Arbeit nicht schafft und dir dieses Hippelchen keine starken Söhne schenkt. Du musst mit dem Kopf wählen und nicht mit dem Herzen.“
Seine Gedanken eilten seinen Worten voraus. Mit Grauen überkam Franz die Vorstellung, dass Tönges wie Donar mit dem Hammer auf ihn niederfahren und donnernd die Wiederherstellung der Ehre seiner geschwängerten Tochter einfordern könnte. Dann säßen bei ihm schlagartig zwei nutzlose Fresser mehr im Haus.
„Mit dem Kopf oder dem Herzen“, griff David apathisch den letzten Satz nochmals auf. „Bei dir war es wohl beides nicht. Eher die Faust, mit der du Mutter peinigst.“
Franz hob genervt den Blick zum Himmel und wollte ein paar Alltagsweisheiten über den Umgang mit dem Weibe folgen lassen. Doch als er den Kopf in den Nacken legte, sah er über sich wieder jenen starken Ast, der mühelos ein Seil und seinen Körper tragen konnte.
Tiefe Gleichgültigkeit senkte sich auf ihn herab. Mochte es überhaupt noch etwas ändern, welche Frau sein Sohn anschleppte, wenn ohnehin die Last der Schulden alles platt machte? Mutlos wandte sich Franz ab und ließ seinen Sohn stehen.